- Deutscher Titel: Welcome Venice
- Erscheinungsjahr: Italien, 2021
- Länge: 104 Minuten
- Regie: Andrea Segre
- Darsteller: Paolo Pierobon (Pietro), Andrea Pennacchi (Alvise), Ottavia Piccolo (Elisa), Roberto Citran (Toni), Sara Lazzaro (Lucia)
Die Geschichte dreht sich um einen Familienkonflikt, in dessen Zentrum die drei Brüder Toni, Piero und Alvise stehen, die bisher sehr unterschiedlich durchs Leben gegangen sind aber dennoch durch die gleichen Wurzeln aneinander gebunden sind. Diese Wurzeln liegen auf der Insel Giudecca in Venedig, wo sie aufgewachsen sind. In ihrem pittoresken Haus auf Giudecca treffen sie mit ihren Familien zusammen um Geburtstag zu feiern. Alvise, der seine Herkunft unter feinen Anzügen versteckt, lebt längst am Festland, verdient aber sein Geld durch die Investition in Ferienwohnungen in Venedig und deren Vermietung. Toni ist dem Beruf seines Vaters, eines traditionellen Fischers in der Lagune von Venedig, treu geblieben. Spezialisiert ist er wie jeher auf den Fang der moeche, das sind feine Krebse, die als Delikatesse gelten. Piero, ein Sturkopf und Draufgänger, ist auf die schiefe Bahn geraten und ist, nach einer Gefängnisstrafe wieder auf die Beine gekommen, indem ihm sein Bruder Toni in das karge Fischereigeschäft mithinein genommen hat.
Nach dem Familienfest zerstreuen sich die Protagonisten wieder. Toni und Piero fahren mit ihrem kleinen Fischerboot in die Lagune um ihrer Arbeit nachzugehen. Ein Gewitter zieht auf. Toni wird vom Blitz getroffen und stirbt. Nach der Trauer um Toni entsteht zwischen Alvise und Piero ein tiefer Konflikt. Alvise will das Familienhaus auf Giudecca in ein Ferienappartement umbauen, Piero will daran und am alten Leben auf Giudecca festhalten. Dieses Drama, in das die ganze Familie involviert ist, bildet das Leitmotiv des Films und öffnet gekonnt verschiedene Nebenthemen. Getragen wird die Geschichte von der großartigen schauspielerischen Leistung der beiden Kontrahenten, Paolo Pierobon (Piero) und Andrea Pennacchi (Alvise). Exzellent verkörpern die beiden zwei Charaktere, die sich im Film sehr gegensätzlich entwickeln. Piero tritt am Anfang des Films als rauer, verbitterter, perspektivenloser Taugenichts, dem das Leben bisher nichts geschenkt hat, auf. Aber er ist ein sympathischer, ehrlicher Typ. Diese Rolle legt er immer mehr ab, wird immer geheimnisvoller und schelmischer, fast philosophisch. Alvise tritt im Gegensatz dazu als erfolgreicher Geschäftsmann auf, der genau weiß wie man es macht. Seine Welt ist eine oberflächliche und er versucht, es allen Recht zu machen. Im Laufe des Films zeigen sich aber schnell seine menschlichen Schwächen und er gerät immer mehr unter Druck seiner Familie und seiner Geschäfte. Seine Scheinwelt zerbröselt immer mehr und zum Schluß sitzt er da und lacht über sich selbst. Die zwei Charaktere versinnbildlichen zwei sehr unterschiedliche Gesichter Venedigs und zum Schluss gibt es keinen Gewinner. Die zwei Brüder sitzen wahrscheinlich heute noch in der Trattoria auf Giudecca und beflegeln sich. Um die beiden herum werden aber auch starke Frauencharaktere aufgebaut.
Aber neben diesem Drama ist es das Leben in Venedig, das thematisiert wird. Hier ist ganz deutlich zu sehen, dass Andrea Segre auch im Dokumentarfilm zu Hause ist, denn die verschiedenen Schauplätze werden in einer stillen Präzision grandios visualisiert und von Matteo Calore in langsame, tiefe Bilder gefasst. Die Ruhe der Bilder bezieht sich auf die inneren Konflikte der Protagonisten und nicht auf die überbordende Hektik das Overtourism dieser schönsten Stadt der Welt. Das hat auch damit zu tun, dass der Film in der Pandemie stattfindet und eine seltene Ruhe über der Lagune liegt. So blitzt die Schönheit der Stadt immer nur kurz auf, wie eine Nebensache und der Blick wir auf andere Motive ausgedehnt. Beeindruckend ist die Natur der riesigen Lagune, in der die Fischer ihrer Arbeit nachgehen. Hier wird fast dokumentarisch gezeigt, wie der Alltag für Berufsfischer aussieht. In großen eindringlichen Bildern wird der Blick auf die außergewöhnliche Landschaft mit Kanälen, Salzwiesen, Wasser, Vögel und Krabben gelenkt. Der Blick auf Giudecca geht dann von der Totalen weg und zeigt liebevoll Details dieser langgestreckten Insel, die von einem Ufer auf das prächtige Venedig blickt und vom anderen Ufer auf die eintönige Weite der Lagune. Dem gegenüber steht das nüchterne Festland als etwas traurige Alternative zu einem immer schwieriger werdenden Leben in Venedig.
Sehr schön taucht auch immer wieder bildfüllend eine besondere Eigenart Venedigs auf, dass nämlich jeglicher Verkehr über das Wasser stattfindet. Piero fährt in seiner offenen Fischerzille zur Arbeit in die Lagune, hinter der wilden monotonen Lagune tauchen große Frachtschiffe auf, Avise steht alleine und verlassen auf einem Vaporetto und wenn es ums Geschäftliche geht, handelt man das im Inneren eines eleganten Wassertaxis ab.
Andrea Segre, der gemeinsam mit Marco Pettenello auch für das Drehbuch verantwortlich zeigt, ist hier ein kleines Meisterwerk gelungen, indem er eine Geschichte um Familie und Erbe, Tradition und Wandel so eng mit einem vermeintlich realen Ort verwebt, dass wir ihm glauben. Dazu kommt, dass wir die Absurdität Venedigs ja selbst schon als Besucher erlebt haben. Aber Andrea Segre zeigt uns auch, dass Venedig abseits der Kulissen des Canal Grande eine landschaftliche, soziale und wirtschaftliche Realität hat. Und um all das zu brechen, endet der Film mit einer surrealen Sequenz. Wer Venedig liebt, wird diesen Film lieben.
Ja und eines zeigt Welcome Venice auch, die Venezianer haben ein Thema, über das sie gemeinsam lachen können: die Touristen.